ODER: BRETAGNE TRIFFT WESTFALEN…
Warst du schon einmal in einem Zwei-Sterne-Restaurant? Nein? Woran liegt´s – an den Kosten, an der Tatsache, dass es in Münster bisher keins gab, oder an mangelnden Knigge-Kenntnissen und einer damit verbundenen Hemmschwelle? Zunächst einmal, mir ging´s genauso wie dir, zumindest bis gestern… Denn ich durfte Elisabeth und Frédéric Morel in ihrem „Coeur D´Artichaut“, das im April mit dem zweiten Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, besuchen. Und dabei habe ich festgestellt, dass es auch in der gehobenen Gastronomie ganz entspannt und locker zugehen kann:
Ich bin dahin gegangen, wohin der Wind mich gebracht hat
Herr Morel, Sie sind in der Bretagne geboren und aufgewachsen, haben dort am „Lycée Hôtelier de Dinard“ Ihre Ausbildung absolviert. Wie sind Sie überhaupt zum Kochen gekommen, hatten Sie von vornherein das Ziel, in der Sterne-Küche zu arbeiten?
Frédéric: In Frankreich ist das Schulsystem sehr vielfältig ausgelegt; man entscheidet sich in der siebten, achten Klasse, in welchem Bereich man sein Abitur machen möchte. Ich habe immer gern gekocht und gegessen; eine Freundin hat mich gefragt, ob wir das Lycée einfach mal anschauen sollen, und ich fand es sehr interessant dort, also habe ich das gemacht. Die Sterne-Gastronomie kam erst später: Ich bin eigentlich nur nach England gezogen, um Englisch zu lernen und neue Erfahrungen zu sammeln; in dem zweiten Restaurant, in dem ich gearbeitet habe, haben wir nach ein paar Monaten einen Stern bekommen, und so bin ich damit in Kontakt gekommen. Seitdem brenne ich dafür, es war immer das Ziel, auf dem Niveau zu bleiben und selbst auch mal einen Stern zu bekommen.
Nach Stationen in England und in der Schweiz sind Sie 2012 nach Deutschland gekommen, haben viele Jahre in Hamburg gelebt. Wie wichtig ist es als Koch, internationale Erfahrungen zu sammeln, und welche Einflüsse spielt ihre bretonische Heimat noch heute in Ihrer Küche?
Frédéric: Es ist nicht zwingend notwendig; es gibt auch sehr gute Köche, die immer an einem Ort geblieben sind. Aber der Beruf bringt es nun mal mit sich, dass man auf der ganzen Welt arbeiten kann, die Handgriffe sind überall die gleichen. Es ist absolut genial, dass man da so frei ist; es gibt zwar die Sprachbarriere oder Produkte und Techniken, die man vielleicht nicht kennt, aber man kann ja immer wieder dazu lernen. Bei mir hat sich das dann auch einfach ergeben, dass ich herumgekommen bin, ich bin dahin gegangen, wohin der Wind mich gebracht hat. Die bretonische Küche bleibt aber trotzdem eine wichtige Säule in meiner Küche, ich bin ja damit aufgewachsen. Wir haben hier viele bretonische Produkte und Geschmacksnuancen, aber anders gearbeitet als in der traditionell-bretonischen Küche. Wir kochen sehr vielseitig!
Frau Morel, Sie kommen ursprünglich aus Münster. Wie schwer war es, Ihren Mann zu überzeugen, 2018 mit Ihnen in Ihre Heimat zurückzuziehen?
Elisabeth: Es war tatsächlich andersherum: Ich wäre auch noch in Hamburg geblieben, habe mich dort wohl gefühlt und hatte auch einen guten Job, wir hatten eine schöne Wohnung und waren gut vernetzt, aber mein Mann wollte den Schritt wagen und nach Münster gehen. Es war nämlich klar, dass wenn wir uns selbstständig machen, wir das nur hier können. In Hamburg war der Markt schon gut gesättigt mit solchen Konzepten, in Münster gab es kulinarisch noch viel zu tun. Das ließ sich von Hamburg allerdings nicht vorantreiben, also haben wir einen radikalen Strich gezogen, Jobs und Wohnung gekündigt. Zum Glück habe ich hier Familie und Freunde, die uns beim Ankommen und vor allem bei der Wohnungssuche unterstützt haben, so hat das dann alles gut geklappt.
Liebe geht durch den Magen – hat Ihr Mann auch seine Kochkunst eingesetzt, um Ihr Herz zu gewinnen? Und zaubert er manchmal auch zuhause kulinarische Genüsse für Sie und die Kinder?
Elisabeth: Natürlich ist das nicht der Grund, warum wir zusammengefunden haben, aber es war schon ein kleiner Eisbrecher; mit seinen Crêpes hat er mich auf jeden Fall überzeugt, die sind auch heute noch eins von meinen Lieblingsgerichten. Bei einem unserer ersten Dates hat er eine richtig gute Fischsuppe gekocht, das kam schon gut an… Jetzt kochen wir aber zuhause ganz einfach, mit guten Produkten, aber deutlich weniger aufwendig als hier; im „Coeur D´Artichaut“ sind das jeden Tag viele Stunden harte Arbeit, da sind wir dann auch mal ganz froh, wenn wir zuhause weniger in der Küche stehen müssen.
Im Herbst 2019 haben Sie das „Coeur D´Artichaut“ am Münsteraner Fischmarkt eröffnet. Haben Sie das Konzept gemeinsam entwickelt?
Elisabeth: Ja, genau, das Konzept haben wir gemeinsam entwickelt; das ist daraus entstanden, dass wir selbst ganz viel essen gegangen sind und uns umgeschaut haben. Hauptsächlich können wir es auf einen Besuch in Kopenhagen zurückführen, da gibt es ein Restaurant, in dem man als Gast an einem Bartresen um die offene Küche herum sitzt und die Köche die Gerichte über den Tresen reichen. So hatten wir uns das zunächst auch vorgestellt, aber es hat uns nicht so gut gefallen, dass man dort beim Essen nicht unter sich ist und neben fremden Menschen sitzt – das mag nicht jeder… Wir haben uns dann für eine offene Küche entschieden, in die die Gäste hereinschauen können, aber ihren eigenen Tisch haben; die Köche bringen die einzelnen Gänge selbst an den Gast, und das eben mit dieser skandinavischen Lockerheit. Man kann lustig sein, Scherze machen und laut lachen, Essen sollte eine gesellige Sache und keine toternste Veranstaltung sein! In Frankreich zum Beispiel ist der klassische Service noch sehr beliebt, da waren wir kürzlich in einem mit drei Sternen ausgezeichneten Restaurant; wir kamen in den kleinen Raum, alles war total leise, fast schon andächtig, sofort kamen zwei Kellner an den Tisch, als wir den letzten Bissen gerade heruntergeschluckt hatten. Das baut unserer Meinung nach eher Hemmschwellen auf, das möchten wir so nicht. Bei uns dürfen die Teller getauscht werden, man muss sich keine Gedanken darum machen, wie man sich zu benehmen hat und ob das Messer nun zu laut auf den Teller gelegt wurde… Wir haben das Konzept so entwickelt, wie wir selbst auch gern essen gehen. Das ganze Erlebnis soll einfach Spaß machen, jeder soll gern zu uns kommen können!
Herr Morel, Sie haben auch schon in Hamburg und am Schloss Bensberg in Bergisch-Gladbach in Sterne-Restaurants gekocht, konnten schon kurz nach Eröffnung des „Coeur D´Artichaut“ den ersten Stern ergattern und ihn drei Jahre halten. Wie groß war die Freude, als Sie vor ein paar Wochen als eins von nur vier Restaurants in NRW den zweiten Stern nach Hause holen konnten?
Frédéric: Einfach nur riesig! Das war das Ziel, irgendwann mal den zweiten Stern zu bekommen, aber natürlich will das in einem gesunden Unternehmen auch gut überlegt sein; es bringt ja nichts, wenn wir den Stern bekommen und dann das Unternehmen gegen die Wand fahren, weil wir uns vielleicht verkalkuliert haben… In den letzten drei Jahren haben wir uns immer weiter gesteigert und sind uns sicher, dass wir dieses Niveau auch halten können, doch wenn ich nun noch einmal zurückschaue, ist das schon krass, dass wir das in so kurzer Zeit erreicht haben! Das ist schon ein kleiner Ego-Boost; nicht nur meine Frau und ich, sondern das ganze Team ist überglücklich. Und es ist natürlich auch eine Bestätigung dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind und genau so weitermachen sollen.
Wie läuft so ein Testessen seitens des „Guide Michelin“ ab? Bekommen Sie überhaupt mit, wenn Inspektoren vor Ort waren?
Frédéric: Das ist unterschiedlich. Es gibt inzwischen zwanzig Tester, die kann man ja gar nicht alle kennen, aber über die Jahre hinweg erkennt man manchmal das ein oder andere Gesicht. Natürlich darf man sie dann aber nicht ansprechen. Klar, wenn man das weiß, schaut man vielleicht auch noch einmal extra über den Teller, das ist nur natürlich, das kann auch keiner unserer Kollegen abstreiten… In den meisten Fällen merken wir das aber gar nicht, wenn jemand da war, und das macht auch keinen Unterschied, denn wir behandeln jeden Gast gleich.
Was unterscheidet die Sterne-Küche von einem guten Restaurant, wo ist die Grenze zwischen herausragender Küche und leckerem, hochwertigen Essen?
Frédéric: Das ist schwer auf den Punkt zu bringen! Die Sterne spiegeln ausschließlich die Qualität des Produktes auf dem Teller wider. Nicht der Service, nicht die Ausstattung – es zählt wirklich nur das, was auf dem Teller ist. Die Unterschiede sind minimal, aber der Teufel steckt im Detail. Manchmal ist es ein Gewürz, das fehlt, manchmal die Sauce, die nicht genug reduziert ist, die zum Kritikpunkt wird… Die Sterne-Gastronomie legt supergroßen Wert auf die hochwertige Qualität der verwendeten Produkte, kann dadurch manches Mal auch nachhaltiger arbeiten als ein „normales“ Restaurant; wir planen sehr vorausschauend, deswegen können wir auch nicht zwanzig À-la-Carte-Gerichte vorhalten und am Ende die Hälfte wegwerfen. Wir kaufen sehr viel regional und saisonal ein, gehen auch selbst sammeln und legen ein; so können wir dann auch Veilchenblüten oder Fichtensprossen im Winter verwenden. Der Umgang mit dem Produkt an sich, die Wertschätzung, das macht wahrscheinlich den Unterschied aus! Das kann man nicht jeden Tag haben, das ist eben etwas Besonderes; gut beschrieben ist das auch in den Richtlinien des Guide Michelin: Ein Stern ist einen Stopp wert, zwei Sterne ein Umweg und drei Sterne eine Reise… Und dann noch einmal aus unserer Sicht: Wir müssen dem Druck standhalten können. Wir haben hart für den zweiten Stern gearbeitet und gekämpft, wissen aber auch, dass wir das „Coeur D´Artichaut“ fast schon schließen und etwas ganz anderes machen müssten, wenn wir ihn wieder verlieren würden. Denn zwar ist auch ein Ein-Sterne-Restaurant ein supergutes Restaurant, aber in den Köpfen der Leute würde hängen bleiben, dass man einen Stern verloren hätte – dessen muss man sich bewusst sein!
Nur acht Tische, offene Sicht in die Küche. Was erwartet mich als Gast im „Coeur D´Artichaut“? Und wie gelingt es mir, überhaupt noch einen Tisch zu ergattern?
Frédéric: Unser Konzept ist hier in der Stadt einzigartig, man bekommt alles mit, was in der Küche passiert, man sieht, wie aufwendig das ist und wie ein Zahnrad in das andere greift. Wir haben inzwischen zehn Festangestellte – wir sind wohl auch das einzige Restaurant, das aktuell voll besetzt ist und niemanden sucht – für acht Tische, an einem Teller arbeiten teilweise vier Köche; vielleicht versteht man dann auch, warum man mindestens sechs Gänge nehmen muss und nicht mal eben auf einen Sprung vorbeikommen kann. Das ist wie ein Theaterbesuch, das ist lange im Voraus geprobt, geplant und vorbereitet, deswegen müssen wir leider auch No-Show-Gebühren berechnen. Jeder Gang ist für sich genommen eine kleine Komposition, ein Erlebnis, mit vielen Überraschungsmomenten – viele beschreiben das als Geschmacksexplosionen –, die Mischung aus bretonischer und westfälischer Küche, aus französischen und modernen Kochtechniken, und das alles eben in ungezwungener Atmosphäre. Auch wenn wir jetzt zwei Sterne haben, sind wir immer noch das Sterne-Restaurant für „Anfänger“, die noch nie in so einer Lokalität waren. Zumindest ist das das Feedback unserer Gäste… Für einen Samstagabend sollte man schon vier, fünf Wochen vorher buchen, aber unter der Woche lässt sich manchmal auch kurzfristiger noch etwas machen. Wir führen auch Wartelisten, so konnten wir auch schon einige Tische vergeben, natürlich auch mit etwas zeitlichem Vorlauf, denn auch der Gast möchte einen solch besonderen Abend planen können. Das Menü wechselt von Monat zu Monat, ein paar Tage zuvor veröffentlichen wir das im Newsletter und in den sozialen Medien.
Frau Morel, können Sie als Paar privat überhaupt noch entspannt irgendwo essen gehen und genießen? Oder ist der Vergleich mit der eigenen Küche ständig Thema?
Elisabeth: Wir sind die entspanntesten Gäste, die es gibt! Selbst wenn es nicht schmeckt, würden wir uns nicht beschweren, weil wir wissen, wieviel Arbeit darin schmeckt; Fehler können passieren, und das ist letztendlich ja auch Geschmackssache… Wenn, dann sind es eher die Gastgeber, die meinen, für uns etwas Besonderes machen zu müssen, auch im privaten Umfeld; meine Mutter meinte, dass sie sich jetzt noch mehr Mühe geben müsse, nachdem wir die Sterne bekommen haben. Aber das ist Quatsch – wir sind glücklich, wenn Dinge mit Liebe zubereitet werden und wir eine schöne Zeit zusammen haben!
Sie sind hier aufgewachsen, kennen sich gut in Münster und Umgebung aus. Welche Orte haben Sie Ihrem Mann bei Ihrem ersten gemeinsamen Besuch gezeigt, wo sind Sie in Ihrer Freizeit anzutreffen?
Elisabeth: Ich glaube, zuerst waren wir im Botanischen Garten. Da sind wir heute auch noch häufig mit den Kindern und wohnen da ganz in der Nähe… Auch die Innenstadt, das Münsterland überhaupt, ist wahnsinnig lebenswert. Als wir aus Hamburg hergekommen sind, war eine der ersten Meldungen im Radio, dass es in Münster zu viele Schilder gäbe, die auf Bielefeld hinweisen – da haben wir uns erstmal angeschaut und mussten lachen. Aus Hamburg waren wir ganz andere Meldungen gewohnt, Messerstecherei am Hauptbahnhof oder so; da ist es doch schön, wenn man nur solche „Probleme“ hat und sich mit den Schildern beschäftigen kann… Die Leute hier sind zwar zunächst schwer zu überzeugen, aber wenn man sie hat, stehen sie hinter einem; für die Münsteraner war es dann auch „unser Sterne-Restaurant“ und nicht das der Morels, alle hatten das Gefühl, daran beteiligt zu sein. Dieses Gemeinschaftsgefühl, die Ruhe und friedliche Umgebung für die Familie, die wir uns ja gerade in diesen Zeiten mehr wünschen denn je – auch wenn man von außen vielleicht ein bisschen dafür belächelt wird, kommen wir hier schon ziemlich nah daran. Es gibt keinen besseren Ort zum Leben als das Münsterland!
Der Guide Michelin hat recht: Für das „Coeur D´Artichaut“ kannst du getrost auch mal einen Umweg machen – sei es, vom Prinzipalmarkt aus über den Alten Fischmarkt zu laufen und zwischen Haus Nummer 11 und 12 in den gemütlichen Innenhof abzubiegen, sei es, mal über deinen Schatten zu springen und etwas Neues auszuprobieren, oder sei es, nicht mehr so häufig, aber dafür richtig gut essen zu gehen!
Coeur D´Artichaut, Alter Fischmarkt 11a, 48143 Münster
https://www.coeur-dartichaut.de/
https://www.instagram.com/restaurant_coeur_dartichaut/
https://www.facebook.com/coeurdartichautmuenster/
Die Fotos mit Ausnahme des Titelbildes wurden mit freundlicher Unterstützung von Elisabeth und Frédéric Morel (Fotografin: Tanja Farwick) zur Verfügung gestellt.